Ein akademischer Deckmantel für die Dämonisierung der Palästina Solidarität
Das Journal of Contemporary Antisemitism präsentiert sich als wissenschaftlich glaubwürdig, während es palästinensischen Solidaritätsaktivismus mit Antisemitismus gleichsetzt.
Anfang Januar befahl Israels neuer Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, der Polizei, ein Verbot des Hissens palästinensischer Flaggen im öffentlichen Raum durchzusetzen. Für viele, die Ben Gvirs Aufstieg und Israels stetigen Marsch zu einer offen faschistischen Politik verfolgt haben, war dieser Schritt keine Überraschung. Die Dämonisierung der palästinensischen Flagge ist jedoch keineswegs ein ausschließlich israelisches Phänomen.
Fast genau ein Jahr zuvor wurde im Journal of Contemporary Antisemitism (JCA) ein Artikel mit dem Titel „ Die palästinensische Flagge als Instrument der Unterdrückung“ veröffentlicht . Dieser Artikel und ähnliche Artikel verdienen Beachtung, nicht wegen ihres intellektuellen Gewichts, sondern als Illustration von einer hochgradig politisierten Arbeit, die sich als rigorose akademische Forschung zu Antisemitismus tarnt, die heute immer häufiger vorkommt, vom Vereinigten Königreich bis zu den Vereinigten Staaten und Deutschland, und darüber hinaus.
Das JCA bezeichnet sich selbst als „die führende wissenschaftliche Publikation auf diesem Gebiet“; Tatsächlich scheint es das einzige aktive englischsprachige Journal zu sein, welches sich ausschließlich des Studiums des Antisemitismus widmet. Es wird derzeit zweimal im Jahr von der in den USA ansässigen Academic Studies Press veröffentlicht und hat seit seiner Einführung im Herbst 2017 10 Ausgaben veröffentlicht. Neben der Veröffentlichung von Peer Review Artikeln bietet es Buchbesprechungen, Rezensionsaufsätze und was es selbst als „Zielartikel“ von „angesehenen Wissenschaftlern“, die keinem Peer-Review unterliegen, beschreibt. Für Leser:innen sind diese Artikel jedoch visuell nicht von Peer-Review Artikeln zu unterscheiden und werden im Inhaltsverzeichnis der Ausgabe auch nicht als solche gekennzeichnet.
Euan Philipps, der Author des Artikels über die palästinensische Flagge, ist Head of Media der britischen Lobby Organisation Labour Against Antisemitism; Inwiefern dieser ein „angesehene[r] Wissenschaftler“ ist wird nicht erklärt. Das Ziel seines Artikels, welcher als einer der „Zielartikel“ der Zeitschrift veröffentlicht wurde, ist es, die palästinensischen Solidaritätsproteste zu untersuchen, die im Vereinigten Königreich als Reaktion auf Israels Bombardierung des Gazastreifens im Mai 2021 abgehalten wurden, und „[zu bewerten], wie die Bildsprache der pro-palästinensischen Bewegung antisemitische Narrative vermittelt.“
Schon zu Beginn wird deutlich, dass es sich bei dieser Arbeit keineswegs um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung oder Wertung handelt. Zum einen fehlt jede Berücksichtigung mit der Semiotik von Flaggen – wie sie sich auf Erinnerung, Kultur und Identität beziehen – die man von einem wissenschaftlichen Artikel zu diesem Thema erwarten würde. Zweitens stammen von den 50 zitierten Quellen nur drei aus akademischen Publikationen; der Rest bezieht sich auf Twitter-Posts, Zeitungsartikel und politische Organisationen wie Labour Friends of Israel (eine pro-israelische Gruppe innerhalb der parlamentarischen Labour Partei im Vereinigten Königreich), die pro-israelische Organisation Committee for Accuracy in Middle East Reporting and Analysis und der prominente britische zionistische Aktivist und Blogger David Collier, der unter anderem glaubt, dass Palästina kein echter Ort ist, sondern eine koloniale Erfindung.
Darüber hinaus sind die Narrative, um die sich der Artikel aufbaut, die Holy Trinity der Hasbara: Die Besetzung Palästinas ist „ komplex “; Unterstützung für den palästinensischen Kampf ist gleichbedeutend mit Unterstützung für die Hamas; und die palästinensische Solidaritätsbewegung dämonisiert Israel aus Judenhass.
Ausblendung der realen Auswirkungen des Zionismus
Wenn unklar ist, wie Philipps der Definition eines „angesehenen Wissenschaftlers“ entspricht, kann das Gleiche über einen Rechtsanwaltsfachangestellten gesagt werden, der für die britische Financial Conduct Authority arbeitet und 2020 einen Artikel in der JCA veröffentlicht hat mit dem Titel „Stellte eine von Corbyn geführte Regierung eine „existenzielle Bedrohung für das jüdische Leben“ im Vereinigten Königreich dar? Revolutionäre Staaten und die Zerstörung jüdischer Gemeinden.“ Der Artikel, dessen Titel sich auf eine Erklärung bezieht, die im Juli 2018 gemeinsam auf den Titelseiten der drei größten jüdischen Zeitungen Großbritanniens veröffentlicht wurde, argumentiert, dass eine hypothetische Corbyn-Regierung nicht an ihrem Wahlprogramm gemessen werden sollte, sondern an Corbyns scheinbarer Affinität zu den venezolanischen, kubanischen, und vor allem iranischen Regimen.
Der Artikel unternimmt keinen Versuch, einen vergleichenden Rahmen oder eine vergleichende Methodik zu etablieren. Vielmehr beschreibt es einfach die Geschichte jüdischer Gemeinden in diesen Ländern und verpflanzt ihr Schicksal in ein fiktives Großbritannien unter der Führung von Jeremy Corbyn. Auch hier sind, ähnlich wie im Artikel von Philipps, nur fünf der 65 Quellen akademischer Natur.
Nicht nur die nicht Peer Review „Zielartikel“ halten einer akademischen Kritik nicht stand, sondern auch einige der regulären Artikel, die einem Peer-Review Prozess unterzogen werden. Einer dieser Artikel stammt von David Hirsh – einem Dozenten an der Goldsmiths University of London, akademischer Direktor und CEO des neu gegründeten London Centre for the Study of Contemporary Antisemitism und redaktioneller Berater des JCA. In seinem Artikel argumentiert Hirsh, dass Antizionismus Antisemitismus ist, indem er die realen Auswirkungen des Zionismus als politische Bewegung völlig ignoriert und ihn stattdessen auf einen subjektiven Ausdruck jüdischer Identität reduziert.
Der Artikel vermeidet jegliche Diskussion über Zionismus als den ideologischen Motor hinter der Gründung des Staates Israel als jüdischen Ethnostaat auf Kosten der indigenen palästinensischen Bevölkerung und als die Kraft, die bis heute Israels Politik gegenüber den Palästinensern und ihrem Land bestimmt. Auch hier bietet Hirshs Artikel nicht viele wissenschaftliche Quellen unter den Werken, auf die er verweist, noch bietet er einen methodologischen Rahmen. Es bleibt ein Rätsel, wie dieser Artikel eine unabhängige Peer-Review bestanden hat.
Allen diesen Artikeln ist gemeinsam, dass sie sich auf die Annahme verlassen, dass die Autoren die wahren Beweggründe der Menschen kennen, unabhängig davon, was sie sagen. Es ist eine pseudowissenschaftliche Herangehensweise, die die Fähigkeit beansprucht, in die Gedanken des Gegners zu schauen und zu wissen, was sie wirklich denken.
Ein pro-israelisches, anti-palästinensisches Journal
Diese pseudowissenschaftliche Ausrichtung und die Vernachlässigung palästinensischer Perspektiven, wenn Israel und Zionismus in dem Journal diskutiert werden, sind ein Spiegelbild ihrer Führung. Die Chefredakteurin der JCA, Lesley Klaff, die Jura an der Sheffield Hallam University lehrt, argumentierte 2010 in einem Papier , dass „[d]ie Abschaffung Israels als jüdischer Staat notwendigerweise die Vernichtung der mehreren Millionen israelischen Juden zur Folge hätte, die dort leben“ und beschrieb das Eintreten gegen einen ausschließlich jüdischen Staat als „gleichbedeutend mit der Heraufbeschwörung eines neuen Holocaust“.
Die Redaktion der JCA umfasst einige prominente Namen in der Antisemitismus-Aufklärung und pro-israelischen Interessenvertretung aus der ganzen Welt. Samuel Salzborn beispielsweise, der Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin, twitterte: „wenn im zug am nachbartisch die leute anfangen, ohne jeden grund auf ›Palästina‹ als thema zu sprechen kommen, ist es wahlweise zeit, auszusteigen, kopfhörer aufzusetzen oder sie anzuschreien. #antisemitismus“. Jonathan Turner, Geschäftsführer von UK Lawyers for Israel, ist dafür bekannt, Lawfare-Kampagnen gegen pro-palästinensische Studentengruppen und Wissenschaftler:innen zu führen. Professor Efraim Karsh argumentiert in seinem Buch „Palestine Betrayal“ von 2010, dass die Nakba „ausschließlich von [den Palästinensern] zu verantworten ist“.
Das prominenteste Mitglied der Redaktion ist jedoch Deborah Lipstadt. Nachdem sie 1996 während ihres Verleumdungsprozesses gegen den Holocaustleugner David Irving an Bedeutung gewonnen hatte, wurde sie letztes Jahr von der Biden-Regierung zur Sondergesandten für die Überwachung und Bekämpfung des globalen Antisemitismus ernannt. Im Laufe der Jahre hat Lipstadt den jüdischen Senator Bernie Sanders beschuldigt, gegenüber Antisemitismus auf der politischen Linken blind zu sein, und behauptet, dass die BDS-Bewegung und das palästinensische Rückkehrrecht einen „[Aufruf] zur Zerstörung des Staates Israel“ darstellen.
Es sind diesen ideologischen, pro-israelischen, anti-palästinensischen Narrative, die sich durch die Ausgaben des Journals ziehen und akademisches Publizieren als Teil des wissenschaftlichen Strebens nach Wissen abwertet. Wenn ein Journal seinen Ruf als „führende wissenschaftliche Publikation“, die „beste akademische Standards [befolgt]“ nutzt, um pseudowissenschaftliche Artikel zu veröffentlichen, die die palästinensische Existenz angreifen oder abwerten, erweist sie nicht nur der Wissenschaft im Gessamten einen Bärendienst, sondern, was noch wichtiger ist, ernsthaften Akademikern die ihre Arbeit und Karriere dem Kampf gegen echten Antisemitismus und Rassismus widmen.
Dieser Artikel erschien im Original in +972 Magazin.